Montag, 29. August 2022

Zyklisches Wesen Teil 1 - Ein Kampf

Violett.

Ich fühle, wie etwas wie Magnetismus mich nach unten zieht. Noch kaum merkbar, aber das reicht, um mich in Alarmbereitschaft zu versetzen. Ich schaue mich um. Hoch oben am Gipfel des Berges hat frau so eine wunderbare Aussicht. Und frau wird so wunderbar gesehen, zumindest oberflächlich. Die Leistung erbracht zu haben, hier oben zu sein, ist nichts besonders. Das macht frau einfach so, so ist frau. Mann übrigens eh auch. Nicht da oben zu stehen, wirkt allerdings irritierend auf die Mehrheit. Drum sollte frau schon da oben bleiben. Dieses Wissen im Hinterkopf ist fest eingemeißelt. Darum ist dieser Sog nach unten für mich eine Gefahr. Mein Puls beschleunigt sich, als ich mit einem Blick rundum bemerke, dass ich bereits etwas unter dem Gipfel bin. Meine Beine bewegen sich wie von selbst wieder nach oben, versuchen die steilen Felswände hochzusteigen. Doch die sind zu glatt und ich rutsche immer weiter nach unten. Verbissen bewege ich meine Beine weiter, der Drang in mir hochzulaufen ist groß. Die Anziehung nach unten wirkt aber noch stärker, je mehr ich mich dagegenstemme. Ich habe die Baumgrenze erreicht, die hohen Wipfeln verdecken teilweise das Sonnenlicht, ausgefranste Muster am Boden bewegen sich im Wind und ziehen Fratzen. Mit meiner linken Hand erfasse ich einen Ast. Ich klammere mich mit aller Kraft daran fest und es scheint, als könne ich dem Sog widerstehen. Doch dieser wird noch stärker. Ich breche in Schweiß aus. Er läuft mir in Bächen den Rücken hinab und macht meine Handflächen feucht. Ich spüre, wie mich die Kraft verlässt und meine verkrampften Finger vom Ast rutschen. Die raue Rinde schürft meine Haut auf. Immer weiter stürze hinab, an Felsen vorbei. Manchmal fehlen nur Zentimeter und ich würde mir meinen Kopf an ihnen aufschlagen. Der dröhnt in der Zwischenzeit, vor lauter Anstrengung und Angst. Meine Muskeln verkrampfen sich bei der Bemühung, den Fall zu stoppen. Wind rauscht an meinen Ohren vorbei und die Umgebung verschwimmt zu einem violetten Streifen. Gerade als ich glaube, mein Bewusstsein zu verlieren, sehe ich das Ende des Abhangs auf mich zurasen. Mein Fall verlangsamt sich, der Abhang wird weniger steil. Ich kann mich trotzdem nicht dagegen wehren, es zieht mich unbarmherzig nach unten. Ich sehe das Wasser des Sees, der am Fuße des Abhangs liegt. Dunkel und still liegt er unter mir. Von ihm geht diese Anziehungskraft aus. Immer näher kommt das Gewässer und selbst als ich mich schon direkt davor befinde, können meine Augen das schwarze Wasser nicht durchdringen.

Schwarz.

Meine Füße sind bereits im Wasser, ich strample, um das Eintauchen zu vermeiden. Ich winde mich und grabe meine Fingernägel in die Erde des Ufers, im verzweifelten Versuch dem Wasser und der Dunkelheit zu entkommen. Die Erde dringt unter meine Fingernägel, die Spuren ziehen. Das Wasser kommt immer höher über meine Waden, die Knie, die Oberschenkel und reicht an meine Hüfte. Mein Gebaren verursacht hohe Wellen, Schaumkronen schaukeln auf der Wasseroberfläche. Mir wird immer kälter, während mir der Angstschweiß auf der Oberlippe steht. Als das Wasser über meine Vulvalippen hoch zum Bauch gleitet, durchfährt mich ein scharfer Schmerz. Mein gesamter Unterleib krampft sich zusammen. Immer stärker wird das Zug nach unten, das Wasser berührt bereits meine Brüste, hinter denen mein Herz schnell und unregelmäßig schlägt. Ich schnappe nach Luft und gebe japsende Geräusche von mir. Mein Brustkorb wird eng und das Luftholen immer schwieriger. Als das Wasser über mein Kinn an meinen Mund reicht, verschlucke ich mich daran und muss husten. Ich habe das Gefühl zu ersticken. Es brennt in meinen Augen und dringt in meine Ohren ein. Schließlich schlägt es über meinem Kopf zusammen. Mein Blick wandert nach unten. Ich kann wage Bewegungen wahrnehmen. Hin und wieder blitzen rote Augen und weiße Zähne auf. Die Monster, sie warten bereits auf mich. Mit aller Kraft versuche ich nach oben ins Licht zu schwimmen. Doch es ist, als hätte ich bleierne Gewichte an meinen Knöcheln. Meine hastigen Bewegungen scheinen die Untiere der Tiefe anzuziehen. Es wird immer finsterer und bald sind ihre leuchtenden Augen die einzige Lichtquelle. Sie umkreisen mich, immer wieder sehe ich einzelne Körperteile vor meinem Gesicht auftauchen. Zuerst sind es die Flanken und Seitenflossen der Tiere, als plötzlich eines frontal auf mich zu geschwommen kommt. Das Maul ist weit aufgerissen und die roten Augen fixieren mich. Ein lautloser Schrei dringt aus meinem Mund, die Luftblasen schweben mit höhnischer Leichtigkeit nach oben. Im letzten Moment dreht das Tier ab und schießt nach unten. Es packt mich an meinem Bauch und zieht daran, als wolle es meine Gedärme herausfetzen. Ein scharfer Schmerz durchdringt meinen ganzen Körper. Ich resigniere und ergebe mich meinem Schicksal. Immer tiefer sinke ich, immer mehr Monster umkreisen mich. Wie auf ein geheimes Signal hin, dreht dann eines nach dem anderen ab, bis ich allein in der Dunkelheit schwebe.

Weiß.

Ich bemerke, dass ich nicht weiter nach unten gesogen werde. Ein kleiner Hoffnungsschimmer erwärmt mein Herz und zaghaft versuche ich ein paar Schwimmbewegungen. Als das Licht an der Wasseroberfläche erscheint, jubiliere ich fast. Davon ermutigt werden meine Schwimmbewegungen kräftiger, mein Körper erwärmt sich wieder und das Licht kommt immer näher. Mein Kopf stößt durch die Wasseroberfläche und ich schnappe nach Luft. Voller Freude lache ich der Sonne entgegen. Mit regelmäßigen Zügen gleite ich Richtung Ufer. Meine Muskeln brennen schon ein wenig, als ich dieses erreiche. Ich lege mich ins feuchte Gras, um ein wenig zu rasten. Die Anstrengungen des Kampfes in der Tiefe sind noch nicht vergessen. Meine Augen fallen zu. Als ich sie wieder öffne, bemerke ich am Stand der Sonne, dass ich lange geschlafen habe. Ein Gefühl der Rastlosigkeit ergreift mich, will ich doch auf den Gipfel hinauf. Sofort mache ich mich auf den Weg. Ich laufe hinauf, den Gipfel fest im Blick. Dabei übersehe ich immer wieder Steine am Weg und schlage mir die Zehen daran auf. Einmal stolpere ich sogar über einen und falle auf meine Knie. Beim Weiterlaufen schmerzen diese dann. Etappenweise geht mir die Luft aus und dann muss ich keuchend eine Pause einlegen. Dann bin ich wütend auf meinen Körper. Ich weiß, dass er diese Strecke schaffen kann, ich bin sie so oft gegangen. Warum gibt er jetzt immer wieder auf? Je weiter ich nach oben gehe, desto frischer wird die Luft. Diese Frische gibt mir Kraft und ich brauche immer weniger Pausen. Der Gipfel ist schon in greifbarer Nähe. Es fehlen nur noch wenige Meter, die ich mit Leichtigkeit hinter mich bringe.

Rot.

Endlich stehe ich auf dem Gipfel. Ich recke meine Arme in die Höhe und mache ein paar Freudensprünge. Die Lebendigkeit schießt durch meine Adern. Ich tanze, bewege meinen Körper mit fließemden Bewegungen, spiele mit dem Wind. Pure Lebensfreude durchströmt mich und lässt in meinen Gliedmaßen ein gribbelndes Gefühl zurück, bis in die Fingerspitzen und bis ans Ende meiner Zehen. Ich ziehe die Luft tief in meine Lungen. Ich liebe das Leben. Dann erinnere ich mich daran, dass bald wieder dieser Sog nach unten starten wird. Ich weiß es, denn das ist immer so. Schon beim Gedanken daran, beginnen meine Gedärme zu rumoren. Zwischen meinen Augen bildet sich eine Falte. Die anerkennenden Blicke der anderen können mich nicht aufmuntern. Warum kann ich mich nicht einfach gut fühlen? Warum kann ich nicht für immer auf diesem Gipfel stehen und die Welt von oben betrachten? Und  gerade als ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe bemerke ich eine leichte Schwere in meinem Unterbauch. Mit jedem Atemzug wird das Gefühl deutlicher und intensiver. Ich halte die Luft an, versuche den Prozess zu stoppen, aber es hilft nichts.

Violett.

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